Auf der kleinen Hamburger Buchmesse, dem »Literatrubel«, tauchte in den späten 70er Jahren auf Veranstaltungen, Lesungen, Diskussionen immer mal wieder eine Frau auf, Mitte Fünfzig, die bald allen auf die Nerven ging. Sie trug kleine Gedichte vor, über die man sich schnell einig war, sie seien schweinisch und ferklig, und sie predigte immer wieder ihr Evangelium, das mit einem einzigen Verb, ihrem Lieblingsverb, beschrieben war: dem Wort »ficken«. Die andere Frau, Alexandra Kollontai, ist längst tot. Sie wurde Lenins erste Ministerin für soziale Fürsorge und tat eine Menge für die Gleichberechtigung der Frau, indem sie für den Mutterschutz, die legalisierte Abtreibung, die staatliche Betreuung von Kindern und für die Straffreiheit der Homosexualität stritt. Sie schrieb auch rührselige Novellen über die Liebe - wohl vor allem, um ihre sowjetischen Mitbürgerinnen mittels Unterhaltung aufzuklären. Alexandra Kollontai und die heute in Kreuzberg lebende sechzigjährige Helga Goetze sind die beiden Heldinnen in einem Film von Rosa von Praunheim, der den kitschtriefenden Titel »Rote Liebe« trägt. Sie sind es auf eine vertrackte Weise. Helga Goetze, indem sie in einem mit der Video-Kamera festgehaltenen Monolog sich ihre Fick-Bedürfnisse und Fick-Erlebnisse von der Seele sprudelt. Alexandra Kollontai, die auch als gravitätische Tote durch den Film schreitet, indem sie eine blutrünstige romantische Novelle beisteuert. Beides, die Novelle vom sowjetischen Traumehepaar, Fabrikdirektor er, hingebungsvolle Gattin, die auf die Parteiarbeit verzichtet, sie - und die Bekenntnisse der Helga Goetze werden harsch ineinander geschnitten. Dabei wird die sowjetische Romanze, die mit einem Eifersuchtsmord endet, von zwei rührend hölzernen Laien dargestellt. Ihre Gefühlsseligkeit kontrastiert einmal mit ihren matt vorgetragenen, schwärmerischen Sätzen, die wie enteignete Wortblasen aus ihrem Mund schweben. Zum andern mit dem futuristischen Design der frühen Sowjetkultur - lange bevor im Stalinismus wieder die Spitzendeckchen auf das Innenleben fielen. Rosa von Praunheim geboren als Holger Mischwitzkyder es seit seinen frühen Knüllern von der »Bettwurst« und der »Berliner Bettwurst« versteht, uns die Flausen über die säuberliche Unterscheidung von Kitsch und Kunst, von Gefühl und Sentimentalität auszutreiben, hat auch mit der »Roten Liebe« ein vergnüglich verstörendes Vexierspiel inszeniert:. Denn die beiden Liebenden in der von schmalzigen Vorurteilen triefenden Novelle bekommen uns, weil sie sich so dilettantisch an alle konventionellen Gefühle S. Helga Goetze ist, nachdem sie die Bürde ihres bürgerlichen Lebens gründlich abgeschüttelt hat, geradezu obsessiv natürlich: eine stadtstreichernde Lyrikerin der freien Liebe. Aber indem sie fröhlich die Freiheit von Zwängen mimt, merkt man, wie sie ihr früheres Leben als Korsett mit sich herumschleppt - als abgelegtes. Ganz nebenbei lernt man also an der »Roten Liebe«, wieviel hygienisch-ästhetische Abrichtungen an den Gefühlen durch Werbung, Herkommen, Film und Erziehung vollstreckt worden sind: Eine Jacketkronen-Gesellschaft möchte sich fast impulsiv zur Wehr setzen, wenn da eine alte Frau mit schlechten Zähnen ihre erotischen Ansprüche und Träume auspackt und erzählt, wie sie es einem Spastiker mit dem Mund besorgt hat. Vielleicht möchte man der »Verrückten« nach wie vor nicht begegnen - dennoch spürt man spürte ichwie der Panzer des Herkommens drückt und zwackt. Auch hier hätte man das meiste erzählt, wenn man die realen Lebensläufe der ihr eigenes Leben spielenden Frauen erzählte. Denn Rosa von Praunheim und auch das zählt zu seinen Stärken will auch nicht viel vom Unterschied zwischen Spiel und Leben wissen - und entdeckt deshalb natürlich besonders viel subtiles Spiel im Leben und grelles Leben im Spiel. Fünf Frauen hat er zu einer Art »Ausstellung« nach Berlin, in seine Wohnung geladen. Alle sind sie über Sechzig, alle haben sie ein bewegtes Leben hinter sich, alle könnten sie als »verschroben« oder »schrill« oder »grell« gelten - als das, wofür man das herablassende Wort »originell« zur Verfügung hat. Es geht da um eine Frankfurter Kriminal- und Gerichtsreporterin, der man ihre lesbische Neigung schon an der entschiedenen Kleidung anzusehen, an der kratzig gerauchten Stimme anzuhören vermeint. Und es geht um die Gastgeberin: eine rauschend groteske Diva, die mit einer Riesenschlange zusammenlebt und bedrohlich mit den Augen klimpern und rollen kann. Sie ist als Jüdin vor den Nazis aus Berlin nach Palästina geflohen, war mit diversen britischen Offizieren verheiratet und hatte auf Zypern ein Lokal. Heute lebt sie in Berlin vom Zimmervermieten, vom Wahrsagen und Handlesen und von der Filmstatisterie. Luzi ist die verkörperte Aufrichtigkeit falscher Töne, eine Duse in der Sozialwohnung, eine Callas aus Kiel. Mit diesen fünf Frauen arrangierte Rosa von Praunheim einen Film, dessen fiktiv gestellte Plaudereien sämtliche Talkshows der letzten Jahre mühelos verblassen lassen: Was da über die fünfziger Jahre Biedere 70 Jährige Lässt Sich Ficken Adenauer, über heimliche Pläne, jemanden umzubringen, der einen sehr verletzt hat, über sogenannte normale und sogenannte anormale Gefühle geredet und gespielt wird - das ergibt wirklich so etwas wie eine Ausstellung deutscher Lebensläufe, Träume und nachbarlicher Beziehungen. Prüderie und Laszivität wirbeln da wild durcheinander. Weil alle fünf Frauen ganz selbstverständlich Platz um sich und ihre Stimmungen und Gefühle brauchen, rasseln sie des öfteren zusammen; kleine Dramen und Melodramen entstehen und vergehen, der Film ufert zur Kriminalgroteske "Uch, eine Schlange! Vor allem aber ist »Unsere Leichen leben noch« unheimlich lustig - und das deshalb, weil er sich über die fünf nie und nirgends lustig macht. Frauen, die Mut zur schrillen Individualität haben, das ist, so denkt man, doch sonst etwas, was den Jungen und Schönen der Stuyvesant-Generation vorbehalten Biedere 70 Jährige Lässt Sich Ficken. Alte haben grau, unauffällig und leise zu sein. Bei Rosa hauen fünf Damen von über Sechzig kräftig auf den Putz sie zanken sich und flirten, sie sticheln mit Eifersüchteleien und geben einander solidarisch Hilfe und Rat. Sie sind, während sie von der Kamera beobachtet werden, nie in der Sorge, sie könnten sich danebenbenehmen. Rosas fünf Frauen haben alle eine Vergangenheit, die sich sehen lassen kann.
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